Each one, teach one!

Ein Tag im Naxos Atelier

Fotos:
Simon Schwertner
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Inmitten der Verbindungslinien zwischen den Stadtteilen Frankfurt Nordend, Bornheim und Ostend stößt man auf robuste Backsteine, mit Stickern übersäte Fensterscheiben und eine schwere Metalltür: Die Naxoshalle. Die ehemalige Fabrik ragt an diesem eisigen Dezembermorgen vor uns empor und lässt schon vor dem Betreten erahnen: Dies ist ein Ort mit Geschichte. Eine Geschichte, in die Simon und ich für einen Tag eintauchen dürfen.

Eingang der Naxos Halle
Foto: Simon Schwertner

Einst im Besitz der jüdischen Familie Pfungst, diente die Halle um die Jahrhundertwende als Produktionsstätte für Schleifpapier. Der für das Papier benötigte Sand stammte von der griechischen Insel Naxos – so erhielt die Halle ihren bezeichnenden Namen. Mitten im historischen Wandel behielt die Fabrik trotz des Nationalsozialismus ihre Produktivität bei, wenngleich sie der jüdischen Familie enteignet wurde und Kriegsgefangene hier arbeiten mussten.

Nach dem Aufbau demokratischer Strukturen wechselte die Naxoshalle in Privatbesitz, um 1990 in die Hände der Stadt Frankfurt zu übergehen, da die Naxos-Union ihre Fabrik an den Stadtrand verlegte. Daraufhin verfiel die Halle zunächst in eine Phase des Leerstands.

Doch wir schreiben die pulsierenden 2000er-Jahre: BMX und Skateboarding werden endgültig zur neuen Jugendkultur und mitten in einer Großstadt steht ein gigantisches, verlassenes Gebäude – es scheint, als sei die nachfolgende Nutzung der Halle vorprogrammiert: Junge Menschen marschierten mit ihren BMX-Rädern und Skateboards im Schlepptau in das alte Gemäuer, schufen ihre eigenen Pipes und Rampen und legten so den Grundstein für das Naxos Atelier, das heute im ersten Stock der Halle ansässig ist.

Ebendieses Atelier ist das Ziel unseres heutigen Ausflugs.

Ein wenig hat der Raum etwas von einem weitläufigen Wohnzimmer: Überall sind Sofas und Sitzmöglichkeiten zu finden, die Wände werden von zahlreichen Bildern geschmückt, darunter Kunstwerke der Atelier-Künstler:innen. Simon und ich werden mit warmem Kakao und einer noch wärmeren Atmosphäre von India begrüßt, die seit sechs Jahren als Sozialarbeiterin im Naxos Atelier tätig ist.

India im Interview
Foto: Simon Schwertner

INDIA Das erste große Projekt war tatsächlich damals schon von der EU finanziert. Dabei ging es darum, dass junge Menschen, die keinen Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden hatten, diese Halle hier entkernt und ausgeräumt haben. So entstand das Naxos Atelier, das eine Einrichtung der Stadt Frankfurt unter dem Träger der kommunalen Kinder-, Jugend- und Familienhilfe ist. Unsere Basis ist die aufsuchende Jugendarbeit. Stefan Mohr, unser Kollege, war damals der erste, der zusammen mit dem Theater für die jungen Menschen da war und mit ihnen das Projekt initiierte.

Die aufsuchende Jugendarbeit bedeutet, dass wir stadtteilbezogen und projektorientiert arbeiten. Man kann sich das so vorstellen, dass Sozialarbeiter:innen schauen: Welche Jugendlichen sind in dem Stadtteil? Wie sind die Stadtteile aufgebaut? Auf was haben die Jugendlichen vor Ort Lust? Wo fehlt vielleicht was? Wo könnte man unterstützen? Dann werden sich gemeinsam für den Stadtteil Projekte überlegt. Außerdem kann man täglich zu fast allen Uhrzeiten hier herkommen und sagen: Das Jobcenter hat geschrieben, zu Hause ist es scheiße, ich muss mit jemandem über etwas reden, ich bin mir bei einer Sache unsicher, …

Man kann sich hier bei der ganzen Bandbreite der Realität des Erwachsenwerdens unterstützen lassen.

Wir sind dann weitervermittelnd und schauen, wie ein Netzwerk von einem bestimmten Punkt an aussehen könnte, damit es für die Person funktioniert. Oder wir sagen einfach: Gib mal den Brief her, wir lesen den zusammen und schauen, was wir antworten müssen.

Neben der täglichen Sozialberatung öffnet das Naxos Atelier jeden Mittwoch ab 14 Uhr seine Pforten für das offene Atelier.

INDIA Im Winter sind wir hier oben in der Halle, im Sommer sind wir draußen im Hinterhof. Es gibt kostenloses Essen für jeden, der kommt. Während wir Beratung anbieten, wird hier gleichzeitig zusammen gesketched. Es kommen aber auch Menschen, die einfach nur WLAN brauchen, es kommen Leute mit ihren Jugendgruppen von anderen Jugendzentren, es kommen aber auch Erwachsene, die sehen: Huch, hier wird was gemalt, da will ich gern mal hoch marschieren. Außerdem haben wir mittwochs und donnerstags unsere Leute, die Sozialstunden bei uns machen.

Wir gehen auf Erkundungstour. Der Blick in die riesige Industriehalle, die sich eine Tür weiter befindet, ist eindrucksvoll: Durch die Fensteröffnungen dringt gedämpftes Licht, ein Labyrinth aus Stahlsäulen und Trägern prägt das Innere. Dazwischen: Kunst, so weit das Auge reicht. Insbesondere die Kunstform des Graffitis ist in den Räumlichkeiten und vor allem im Außenbereich stets vertreten. Simon und ich wagen uns noch einmal in die Kälte hinaus und entdecken drei Menschen, die am Sprayen sind.

Graffiti
Foto: Simon Schwertner

INDIA Wir haben uns in den letzten Jahren auf die Subkultur Graffiti spezialisiert, die sich ja auch wiederum in den letzten Jahren stark verändert hat, sie hat Einzug gefunden in die Museen dieser Welt. Von Graffiti zu Street-Art zu Urban Art. Graffiti kostet nichts, dafür will man kein Geld. Street Art fängt an, Geld zu verlangen, Urban Art kostet. Das ist der Weg, den spüren wir hier auch.

SIMON Ich finde, es gibt diese große Spanne zwischen Graffiti und Street Art, wie du eben schon gemeint hast. Würdet ihr dann auch sagen, durch die Arbeit, die ihr hier leistet, baut ihr eine Brücke dazwischen?

INDIA Ja, einerseits die Brücke, wir wollen aber auch ein Verständnis dafür schaffen. Was ich oft mitbekomme, ist, dass Leute kein Graffiti mögen, Street Art aber schon. Das eine hat mit Buchstaben zu tun, das andere mit Bildern. Street Art kann ja auch eine Landschaftsmalerei sein. Aber das hat ja mit dem Kern Graffiti, also Graffito Buchstabe, nichts mehr zutun. Ein gutes Graffiti heißt nicht, dass Leute auf der Straße stehen bleiben und sagen: Wow. Obwohl derjenige, der dieses Graffiti gemacht hat, vielleicht 25 Jahre lang malt und locker auch Landschaft malen kann, aber sich halt für den Buchstaben entschieden hat.

RAHEL Wie integriert ihr die Kunst in die soziale Arbeit?

INDIA Wichtig zu sagen zur Kunst und der Sozialen Arbeit ist: Es gibt bei uns nicht das eine und das andere oder das eine für das andere, sondern es gibt beides immer ebenbürtig nebeneinander. Es gibt ja Soziale Arbeit mit einem speziellen Schwerpunkt, zum Beispiel Kunst und Medien. Bei uns ist das nur zum Teil so. Wir sind Sozialarbeiter:innen und Künstler:innen. Das ist ganz wichtig. Manchmal machen wir auch einfach nur Kunst. Oder aber ein gewisser sozialer Ansatz bringt vielleicht die Kunst schon selbst mit. Oder aber, und jetzt würden wir auf Joseph Beuys gehen: Das Leben an sich ist vielleicht schon Kunst.

Wir begeben uns zurück in die Wärme. Um uns herum herrscht ein reges Treiben, das beispielhaft dafür steht, wie Kunst und Sozialarbeit koexistieren können. An verschiedenen Stationen sind Kinder und Jugendliche aktiv, nehmen an Workshops wie DJing, Rappen oder Mixed Media teil. In Zweierteams wird sich an Plattenspielern ausprobiert, teilweise werden zum ersten Mal Vinyl-Schallplatten gesehen. Wem das zu kompliziert ist, darf unter Anleitung mit einem digitalen Controller Tracks mischen. Auf dem Tisch des Mixed-Media-Workshops werden fleißig Schablonen gezeichnet, ausgeschnitten und dann zum Bemalen und Besprühen von Shirts verwendet. In einer anderen Ecke ist eine kleine Booth aufgebaut, wo die Techniken des Reimens nähergebracht werden. In einer zusätzlichen VR-Ecke werden den Jugendlichen künstlerische VR-Apps gezeigt.

DJ Workshop
Foto: Simon Schwertner

All dies findet im Rahmen der heutigen Winter Jam Veranstaltung des Naxos Ateliers in Kooperation mit dem Verein Spinnkultur statt.

INDIA Für die heutige Veranstaltung haben wir uns, weil der Hip-Hop dieses Jahr 50 Jahre alt wurde, zur Aufgabe gemacht, dass die alten Menschen den neuen kleinen Menschen ihr Wissen über den Hip-Hop weitergeben müssen. Sonst kann es passieren, dass es sich verliert. Das beginnt bei den vier Säulen Graffiti, Tanz, DJing und Rap und endet darin, wie man miteinander im Hip-Hop agiert.

Erfahrene Menschen teilen ihr Wissen mit den jüngeren Generationen, wobei auch die Älteren von den Jüngeren lernen können. Dieser Grundsatz verleiht der heutigen Veranstaltung ihr Motto: Each one, teach one (frei übersetzt: „Jeder bringt einer anderen Person etwas bei“). Zu uns gesellt sich Shereen, die genau wie India im Naxos Atelier als Sozialarbeiterin tätig ist.

RAHEL Was bedeutet für euch das heutige Motto?

INDIA Dass man immer etwas weitergibt. Dass man nicht alles für sich macht und für sich behält. Irgendwann hat es ja in einem selbst einen Moment gegeben, wo eine Leidenschaft entfacht worden ist, und im krassesten Fall hat man das sogar zu seinem Job gemacht, wenn man sich es zutraut oder die Sicherheit empfindet. Und dann finde ich es wichtig, davon auch wieder einen Teil der nächsten Generation zu geben.

SHEREEN Ich kann von den Jungen lernen, wie sie auch von mir lernen können. Und ich habe natürlich auch wiederum Ältere, von denen ich lernen kann, die aber auch von mir lernen können. Und dass jeder offen ist für das, was der andere sagt. Das ist total wichtig. Ich finde, das merkt man zum Beispiel beim DJ-Workshop, wo man die Schnittstelle von digital und analog sieht.

RAHEL Wieso ist die Schnittstelle zwischen Kunst und Pädagogik so wichtig?

INDIA Es gibt einen wissenschaftlichen Bereich, der heißt “Kulturelle Bildung und ästhetisches Lernen“. Das bedeutet: Was können verschiedene Künste in dir bewirken und wie kannst du diese Erfahrung in deinem Alltag übersetzen? Das macht man zum Beispiel über eine ästhetische Erfahrung. Eine ästhetische Erfahrung kann sein: Ich nehme zum ersten Mal in meinem Leben einen Pinsel und setze den auf eine Leinwand und es passiert etwas. Allein dieser Moment des Aufsetzens des Pinsels kann für dich als Mensch verändernd sein.

Du machst eine Erfahrung und wirst wirksam. Und das, glaube ich, ist die große Chance.

Carl-Peter Buschkühle schreibt darüber, dass man in der Kunst immer wieder an den Punkt kommen will, dass etwas nicht klappt. Das sei sogar die Voraussetzung für Kunst. Man setzt sich immer wieder damit auseinander, etwas noch nie oder zum ersten Mal getan zu haben. Man fordert sich heraus. Man will nicht immer das Gleiche machen, man will mehr in der Kunst. Im Leben ist es manchmal anders. Da ist man eher überfordert von den ganzen Herausforderungen. Wenn man es aber schafft, das künstlerische System mit in sein Leben zu nehmen, kann dir das Leben leichter gemacht werden.

SHEREEN Ich denke, dass man zum einen durch die Kunst einen super Zugang zu den Menschen bekommt. Man hat ein Medium, auf das man sich zu zweit konzentrieren kann. Gleichzeitig findest du durch Kunst ja immer etwas über einen Menschen heraus: Was gefällt der Person? Was hat sie schon mal kennengelernt? Welche Zugänge hat sie schon gehabt? Ich glaube, viele checken gar nicht, was wir nur anhand ihrer Arbeiten für uns schon rausfiltern können.

T-Shirts werden bedruckt
Foto: Simon Schwertner

RAHEL Also würdet ihr auch sagen, das ist das, was das Naxos Atelier so besonders macht? Die Schnittstelle und Gleichgewichtung von Kunst und Sozialpädagogik? Das ist in dieser Form ja schon etwas besonderes, oder?

INDIA Ja, tatsächlich. Es ist aber auch nicht so leicht, das in dieser Form zu machen. Wir reden hier über die Bereiche Finanzierung, Langzeit-Verankerung dieser Projekte, Aufweichen einer bis dato bekannten Zielgruppenorientierung im Sozialen Feld und vielen weiteren möglichen Hürden. Und deswegen gibt es das glaube ich auch nicht so oft, weil es nicht so leicht ist, sich das aufzubauen, das ganze finanziell zu sichern und dafür zu kämpfen.

Zwar sei die Arbeit nicht immer einfach, aber der Spaß komme nie zu kurz, erzählt uns India.

INDIA Ich muss bei meiner Arbeit sehr viel lachen. Ich lach’ sehr viel… Ich lache wirklich viel (lacht). Ich freue mich unendlich, wenn sich jemand selbst erfährt, sich ausprobiert in etwas mega Neuem. Für mich selber wäre, glaube ich, kein anderer Weg möglich gewesen, weil ich selber aus der Kunst komme. Und hätte ich hier keinen Ort gefunden, an dem Kunst und Soziale Arbeit ebenbürtig nebeneinander bestehen dürfen, hätte ich die Stadt verlassen.

RAHEL Könnt ihr das Naxos Atelier in drei Worten beschreiben?

INDIA Voll. Achtsam. Sichtbar.

SHEREEN Wow … In 3 Worten … (überlegt) Kreativ wäre irgendwie zu langweilig. Mhm … Was ich eigentlich sagen will, ist, dass man nie weiß, was einen erwartet. Wie sagt man das?

RAHEL Überraschend vielleicht?

SHEREEN Ja, überraschend! Jeder Tag ist überraschend. (Überlegt weiter) 3 Wörter sind gemein (alle lachen). Ein Raum voller Möglichkeiten!

SIMON (fängt an, die Wörter des Satzes zu zählen) Es sind vier!

SHEREEN Raum voller Möglichkeiten?

RAHEL So können wir’s machen! (Alle lachen)

Mit dem Ausklingen des Tages neigen sich auch die Workshops ihrem Ende zu. Doch anstatt sich zu leeren, füllt sich das Atelier noch einmal mit Leben: Nach dem exklusiven Workshop-Teil stehen die Türen für alle Besucher:innen des Ateliers weit offen. Gemeinsam sketchen, sprayen und snacken nun Jung und Alt, bis gemeinsam der Film „Style Wars“, ein Dokumentarfilm über die Hip-Hop-Kultur, angeschaut wird.

Spätestens nach Gesprächen mit einigen der Besucher:innen wird uns bewusst: Das Naxos Atelier ist mehr als ein Raum für Kunst und Pädagogik. Es ist ein Ort der Begegnung, an dem Menschen verschiedenster Generationen und Lebenswege aufeinandertreffen. Hier entstehen nicht nur Werke, sondern auch Verbindungen. Um die Worte von Shereen erneut aufzugreifen: Das Naxos Atelier ist ein Raum, der voller Möglichkeiten steckt.

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Inmitten der Verbindungslinien zwischen den Stadtteilen Frankfurt Nordend, Bornheim und Ostend stößt man auf robuste Backsteine, mit Stickern übersäte Fensterscheiben und eine schwere Metalltür: Die Naxoshalle. Die ehemalige Fabrik ragt an diesem eisigen Dezembermorgen vor uns empor und lässt schon vor dem Betreten erahnen: Dies ist ein Ort mit Geschichte. Eine Geschichte, in die Simon und ich für einen Tag eintauchen dürfen.

Eingang der Naxos Halle
Foto: Simon Schwertner

Einst im Besitz der jüdischen Familie Pfungst, diente die Halle um die Jahrhundertwende als Produktionsstätte für Schleifpapier. Der für das Papier benötigte Sand stammte von der griechischen Insel Naxos – so erhielt die Halle ihren bezeichnenden Namen. Mitten im historischen Wandel behielt die Fabrik trotz des Nationalsozialismus ihre Produktivität bei, wenngleich sie der jüdischen Familie enteignet wurde und Kriegsgefangene hier arbeiten mussten.

Nach dem Aufbau demokratischer Strukturen wechselte die Naxoshalle in Privatbesitz, um 1990 in die Hände der Stadt Frankfurt zu übergehen, da die Naxos-Union ihre Fabrik an den Stadtrand verlegte. Daraufhin verfiel die Halle zunächst in eine Phase des Leerstands.

Doch wir schreiben die pulsierenden 2000er-Jahre: BMX und Skateboarding werden endgültig zur neuen Jugendkultur und mitten in einer Großstadt steht ein gigantisches, verlassenes Gebäude – es scheint, als sei die nachfolgende Nutzung der Halle vorprogrammiert: Junge Menschen marschierten mit ihren BMX-Rädern und Skateboards im Schlepptau in das alte Gemäuer, schufen ihre eigenen Pipes und Rampen und legten so den Grundstein für das Naxos Atelier, das heute im ersten Stock der Halle ansässig ist.

Ebendieses Atelier ist das Ziel unseres heutigen Ausflugs.

Ein wenig hat der Raum etwas von einem weitläufigen Wohnzimmer: Überall sind Sofas und Sitzmöglichkeiten zu finden, die Wände werden von zahlreichen Bildern geschmückt, darunter Kunstwerke der Atelier-Künstler:innen. Simon und ich werden mit warmem Kakao und einer noch wärmeren Atmosphäre von India begrüßt, die seit sechs Jahren als Sozialarbeiterin im Naxos Atelier tätig ist.

India im Interview
Foto: Simon Schwertner

INDIA Das erste große Projekt war tatsächlich damals schon von der EU finanziert. Dabei ging es darum, dass junge Menschen, die keinen Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt gefunden hatten, diese Halle hier entkernt und ausgeräumt haben. So entstand das Naxos Atelier, das eine Einrichtung der Stadt Frankfurt unter dem Träger der kommunalen Kinder-, Jugend- und Familienhilfe ist. Unsere Basis ist die aufsuchende Jugendarbeit. Stefan Mohr, unser Kollege, war damals der erste, der zusammen mit dem Theater für die jungen Menschen da war und mit ihnen das Projekt initiierte.

Die aufsuchende Jugendarbeit bedeutet, dass wir stadtteilbezogen und projektorientiert arbeiten. Man kann sich das so vorstellen, dass Sozialarbeiter:innen schauen: Welche Jugendlichen sind in dem Stadtteil? Wie sind die Stadtteile aufgebaut? Auf was haben die Jugendlichen vor Ort Lust? Wo fehlt vielleicht was? Wo könnte man unterstützen? Dann werden sich gemeinsam für den Stadtteil Projekte überlegt. Außerdem kann man täglich zu fast allen Uhrzeiten hier herkommen und sagen: Das Jobcenter hat geschrieben, zu Hause ist es scheiße, ich muss mit jemandem über etwas reden, ich bin mir bei einer Sache unsicher, …

Man kann sich hier bei der ganzen Bandbreite der Realität des Erwachsenwerdens unterstützen lassen.

Wir sind dann weitervermittelnd und schauen, wie ein Netzwerk von einem bestimmten Punkt an aussehen könnte, damit es für die Person funktioniert. Oder wir sagen einfach: Gib mal den Brief her, wir lesen den zusammen und schauen, was wir antworten müssen.

Neben der täglichen Sozialberatung öffnet das Naxos Atelier jeden Mittwoch ab 14 Uhr seine Pforten für das offene Atelier.

INDIA Im Winter sind wir hier oben in der Halle, im Sommer sind wir draußen im Hinterhof. Es gibt kostenloses Essen für jeden, der kommt. Während wir Beratung anbieten, wird hier gleichzeitig zusammen gesketched. Es kommen aber auch Menschen, die einfach nur WLAN brauchen, es kommen Leute mit ihren Jugendgruppen von anderen Jugendzentren, es kommen aber auch Erwachsene, die sehen: Huch, hier wird was gemalt, da will ich gern mal hoch marschieren. Außerdem haben wir mittwochs und donnerstags unsere Leute, die Sozialstunden bei uns machen.

Wir gehen auf Erkundungstour. Der Blick in die riesige Industriehalle, die sich eine Tür weiter befindet, ist eindrucksvoll: Durch die Fensteröffnungen dringt gedämpftes Licht, ein Labyrinth aus Stahlsäulen und Trägern prägt das Innere. Dazwischen: Kunst, so weit das Auge reicht. Insbesondere die Kunstform des Graffitis ist in den Räumlichkeiten und vor allem im Außenbereich stets vertreten. Simon und ich wagen uns noch einmal in die Kälte hinaus und entdecken drei Menschen, die am Sprayen sind.

Graffiti
Foto: Simon Schwertner

INDIA Wir haben uns in den letzten Jahren auf die Subkultur Graffiti spezialisiert, die sich ja auch wiederum in den letzten Jahren stark verändert hat, sie hat Einzug gefunden in die Museen dieser Welt. Von Graffiti zu Street-Art zu Urban Art. Graffiti kostet nichts, dafür will man kein Geld. Street Art fängt an, Geld zu verlangen, Urban Art kostet. Das ist der Weg, den spüren wir hier auch.

SIMON Ich finde, es gibt diese große Spanne zwischen Graffiti und Street Art, wie du eben schon gemeint hast. Würdet ihr dann auch sagen, durch die Arbeit, die ihr hier leistet, baut ihr eine Brücke dazwischen?

INDIA Ja, einerseits die Brücke, wir wollen aber auch ein Verständnis dafür schaffen. Was ich oft mitbekomme, ist, dass Leute kein Graffiti mögen, Street Art aber schon. Das eine hat mit Buchstaben zu tun, das andere mit Bildern. Street Art kann ja auch eine Landschaftsmalerei sein. Aber das hat ja mit dem Kern Graffiti, also Graffito Buchstabe, nichts mehr zutun. Ein gutes Graffiti heißt nicht, dass Leute auf der Straße stehen bleiben und sagen: Wow. Obwohl derjenige, der dieses Graffiti gemacht hat, vielleicht 25 Jahre lang malt und locker auch Landschaft malen kann, aber sich halt für den Buchstaben entschieden hat.

RAHEL Wie integriert ihr die Kunst in die soziale Arbeit?

INDIA Wichtig zu sagen zur Kunst und der Sozialen Arbeit ist: Es gibt bei uns nicht das eine und das andere oder das eine für das andere, sondern es gibt beides immer ebenbürtig nebeneinander. Es gibt ja Soziale Arbeit mit einem speziellen Schwerpunkt, zum Beispiel Kunst und Medien. Bei uns ist das nur zum Teil so. Wir sind Sozialarbeiter:innen und Künstler:innen. Das ist ganz wichtig. Manchmal machen wir auch einfach nur Kunst. Oder aber ein gewisser sozialer Ansatz bringt vielleicht die Kunst schon selbst mit. Oder aber, und jetzt würden wir auf Joseph Beuys gehen: Das Leben an sich ist vielleicht schon Kunst.

Wir begeben uns zurück in die Wärme. Um uns herum herrscht ein reges Treiben, das beispielhaft dafür steht, wie Kunst und Sozialarbeit koexistieren können. An verschiedenen Stationen sind Kinder und Jugendliche aktiv, nehmen an Workshops wie DJing, Rappen oder Mixed Media teil. In Zweierteams wird sich an Plattenspielern ausprobiert, teilweise werden zum ersten Mal Vinyl-Schallplatten gesehen. Wem das zu kompliziert ist, darf unter Anleitung mit einem digitalen Controller Tracks mischen. Auf dem Tisch des Mixed-Media-Workshops werden fleißig Schablonen gezeichnet, ausgeschnitten und dann zum Bemalen und Besprühen von Shirts verwendet. In einer anderen Ecke ist eine kleine Booth aufgebaut, wo die Techniken des Reimens nähergebracht werden. In einer zusätzlichen VR-Ecke werden den Jugendlichen künstlerische VR-Apps gezeigt.

DJ Workshop
Foto: Simon Schwertner

All dies findet im Rahmen der heutigen Winter Jam Veranstaltung des Naxos Ateliers in Kooperation mit dem Verein Spinnkultur statt.

INDIA Für die heutige Veranstaltung haben wir uns, weil der Hip-Hop dieses Jahr 50 Jahre alt wurde, zur Aufgabe gemacht, dass die alten Menschen den neuen kleinen Menschen ihr Wissen über den Hip-Hop weitergeben müssen. Sonst kann es passieren, dass es sich verliert. Das beginnt bei den vier Säulen Graffiti, Tanz, DJing und Rap und endet darin, wie man miteinander im Hip-Hop agiert.

Erfahrene Menschen teilen ihr Wissen mit den jüngeren Generationen, wobei auch die Älteren von den Jüngeren lernen können. Dieser Grundsatz verleiht der heutigen Veranstaltung ihr Motto: Each one, teach one (frei übersetzt: „Jeder bringt einer anderen Person etwas bei“). Zu uns gesellt sich Shereen, die genau wie India im Naxos Atelier als Sozialarbeiterin tätig ist.

RAHEL Was bedeutet für euch das heutige Motto?

INDIA Dass man immer etwas weitergibt. Dass man nicht alles für sich macht und für sich behält. Irgendwann hat es ja in einem selbst einen Moment gegeben, wo eine Leidenschaft entfacht worden ist, und im krassesten Fall hat man das sogar zu seinem Job gemacht, wenn man sich es zutraut oder die Sicherheit empfindet. Und dann finde ich es wichtig, davon auch wieder einen Teil der nächsten Generation zu geben.

SHEREEN Ich kann von den Jungen lernen, wie sie auch von mir lernen können. Und ich habe natürlich auch wiederum Ältere, von denen ich lernen kann, die aber auch von mir lernen können. Und dass jeder offen ist für das, was der andere sagt. Das ist total wichtig. Ich finde, das merkt man zum Beispiel beim DJ-Workshop, wo man die Schnittstelle von digital und analog sieht.

RAHEL Wieso ist die Schnittstelle zwischen Kunst und Pädagogik so wichtig?

INDIA Es gibt einen wissenschaftlichen Bereich, der heißt “Kulturelle Bildung und ästhetisches Lernen“. Das bedeutet: Was können verschiedene Künste in dir bewirken und wie kannst du diese Erfahrung in deinem Alltag übersetzen? Das macht man zum Beispiel über eine ästhetische Erfahrung. Eine ästhetische Erfahrung kann sein: Ich nehme zum ersten Mal in meinem Leben einen Pinsel und setze den auf eine Leinwand und es passiert etwas. Allein dieser Moment des Aufsetzens des Pinsels kann für dich als Mensch verändernd sein.

Du machst eine Erfahrung und wirst wirksam. Und das, glaube ich, ist die große Chance.

Carl-Peter Buschkühle schreibt darüber, dass man in der Kunst immer wieder an den Punkt kommen will, dass etwas nicht klappt. Das sei sogar die Voraussetzung für Kunst. Man setzt sich immer wieder damit auseinander, etwas noch nie oder zum ersten Mal getan zu haben. Man fordert sich heraus. Man will nicht immer das Gleiche machen, man will mehr in der Kunst. Im Leben ist es manchmal anders. Da ist man eher überfordert von den ganzen Herausforderungen. Wenn man es aber schafft, das künstlerische System mit in sein Leben zu nehmen, kann dir das Leben leichter gemacht werden.

SHEREEN Ich denke, dass man zum einen durch die Kunst einen super Zugang zu den Menschen bekommt. Man hat ein Medium, auf das man sich zu zweit konzentrieren kann. Gleichzeitig findest du durch Kunst ja immer etwas über einen Menschen heraus: Was gefällt der Person? Was hat sie schon mal kennengelernt? Welche Zugänge hat sie schon gehabt? Ich glaube, viele checken gar nicht, was wir nur anhand ihrer Arbeiten für uns schon rausfiltern können.

T-Shirts werden bedruckt
Foto: Simon Schwertner

RAHEL Also würdet ihr auch sagen, das ist das, was das Naxos Atelier so besonders macht? Die Schnittstelle und Gleichgewichtung von Kunst und Sozialpädagogik? Das ist in dieser Form ja schon etwas besonderes, oder?

INDIA Ja, tatsächlich. Es ist aber auch nicht so leicht, das in dieser Form zu machen. Wir reden hier über die Bereiche Finanzierung, Langzeit-Verankerung dieser Projekte, Aufweichen einer bis dato bekannten Zielgruppenorientierung im Sozialen Feld und vielen weiteren möglichen Hürden. Und deswegen gibt es das glaube ich auch nicht so oft, weil es nicht so leicht ist, sich das aufzubauen, das ganze finanziell zu sichern und dafür zu kämpfen.

Zwar sei die Arbeit nicht immer einfach, aber der Spaß komme nie zu kurz, erzählt uns India.

INDIA Ich muss bei meiner Arbeit sehr viel lachen. Ich lach’ sehr viel… Ich lache wirklich viel (lacht). Ich freue mich unendlich, wenn sich jemand selbst erfährt, sich ausprobiert in etwas mega Neuem. Für mich selber wäre, glaube ich, kein anderer Weg möglich gewesen, weil ich selber aus der Kunst komme. Und hätte ich hier keinen Ort gefunden, an dem Kunst und Soziale Arbeit ebenbürtig nebeneinander bestehen dürfen, hätte ich die Stadt verlassen.

RAHEL Könnt ihr das Naxos Atelier in drei Worten beschreiben?

INDIA Voll. Achtsam. Sichtbar.

SHEREEN Wow … In 3 Worten … (überlegt) Kreativ wäre irgendwie zu langweilig. Mhm … Was ich eigentlich sagen will, ist, dass man nie weiß, was einen erwartet. Wie sagt man das?

RAHEL Überraschend vielleicht?

SHEREEN Ja, überraschend! Jeder Tag ist überraschend. (Überlegt weiter) 3 Wörter sind gemein (alle lachen). Ein Raum voller Möglichkeiten!

SIMON (fängt an, die Wörter des Satzes zu zählen) Es sind vier!

SHEREEN Raum voller Möglichkeiten?

RAHEL So können wir’s machen! (Alle lachen)

Mit dem Ausklingen des Tages neigen sich auch die Workshops ihrem Ende zu. Doch anstatt sich zu leeren, füllt sich das Atelier noch einmal mit Leben: Nach dem exklusiven Workshop-Teil stehen die Türen für alle Besucher:innen des Ateliers weit offen. Gemeinsam sketchen, sprayen und snacken nun Jung und Alt, bis gemeinsam der Film „Style Wars“, ein Dokumentarfilm über die Hip-Hop-Kultur, angeschaut wird.

Spätestens nach Gesprächen mit einigen der Besucher:innen wird uns bewusst: Das Naxos Atelier ist mehr als ein Raum für Kunst und Pädagogik. Es ist ein Ort der Begegnung, an dem Menschen verschiedenster Generationen und Lebenswege aufeinandertreffen. Hier entstehen nicht nur Werke, sondern auch Verbindungen. Um die Worte von Shereen erneut aufzugreifen: Das Naxos Atelier ist ein Raum, der voller Möglichkeiten steckt.

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